Der phantastische Roman
Was die Phantastik angeht, so teile ich nicht unbedingt die Ansicht der Theoretiker der Literatur; nun muss ich allerdings zugeben, dass ich kein Literaturstudium absolviert habe, ich lese, atme und lebe Literatur, habe sie aber nicht studiert (mein Studium war weniger phantasievoll). Dies möchte ich betonen, denn diese Definition ist nur meine eigene, die ich für mich und meinen Blog nutze, und nicht die einer literarischen Studie.
Meine Definition verbindet ebenfalls die Phantastik und die Fantasy, denn diese beiden Genre sind zweifellos verwandt. Doch wenn in der Fantasy die Regeln und Gesetze, die die von dem Autoren erdachte Welt regieren, sich völlig von denen unserer Realität unterscheiden können – hier kann es die Magie geben, Dämonen können unter uns leben, Engel vom Himmel fallen, Trolle in den Bergen leben – so ist dies nicht der Fall in einem phantastischen Buch.
Im Gegensatz zu der Fantasy spielt sich die Handlung des phantastischen Romans in „unserer“ Welt ab.
Hier herrschen dieselben Naturgesetze wie wir sie aus unserer Realität kennen vor. Es geschieht hier.
Der fantastische Roman beginnt auch meistens in einer recht alltäglichen Stimmung, einem „normalen“ Moment gewissermaßen – und dann stürzen in unsere Welt phantastische Elemente über den Romanhelden ein, das heißt unerklärliche Dinge, oftmals übernatürlich und unkontrollierbar.
Diese Geschehnisse sind also weder gängig noch irgendwie akzeptiert, meistens glaubt dem Romanhelden auch keiner und dieser muss sehen, wie er mit der Situation zurecht kommt.
Es kann sich zum Beispiel um ein blindes Mädchen handeln das durch eine Retina-Transplantation wieder sehen kann… und von nun an Zukunftsvisionen hat. Sie lebt in einer normalen Welt – und erlebt etwas „phantastisches“. Sie muss nun lernen damit zu leben, ihre Umwelt davon zu überzeugen usw.
Ein „Klassiker“ des phantastischen Romans ist wohl „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde: Ein junger Mann der guten Gesellschaft lässt ein Porträt von sich malen und etwas phantastisches, etwas unerklärliches, übernatürliches geschieht – es ist das Bildnis das an seiner statt zu altern beginnt. Aber das ist nicht alles, das Porträt wird ebenfalls die Spuren der Boshaftigkeit des Dorian Gray wiederspiegeln. So muss dieser sich selbst beim Altern zusehen und auch seinen inneren Zerfall beobachten während er weiterhin der Außenwelt ein engelhaftes, ewig jugendliches Gesicht präsentiert.
Mit dieser Definition wiederspreche ich in gewissem Masse der allgemein festgehaltenen Erklärung, das ist mir klar; generell gehen die Literaten davon aus, dass die Phantastik die „Mutter“ der Fantasy oder auch des Horrorromans ist. Für mich ist es eher eine Kusine. Allgemein wird auch festgehalten, dass in einem phantastischen Roman die Regeln der Realität annulliert werden. Ich persönlich denke nicht, dass dies exakt ist – denn dann befänden wir uns in einem Fantasy-Roman und die Phantastik würde ihre Eigenheit verlieren, nämlich jene, dass es eben dieses surrealistische, dieses übernatürliche Etwas ist, was die ganze Handlung auferstehen lässt, denn dieses kleine Etwas ist eben in der von dem Roman vorgestellten Welt nicht „normal“, es ist „außergewöhnlich“, es ist “phantastisch“.
Bleiben wir bei „Dorian Gray“, da ich denke, dass so ziemlich jeder diesen Roman kennt.
Was hier geschieht, das passiert nur Dorian Gray, es gibt hier nur einen winzigen Riss in der Realität, aber es ändert keinesfalls etwas an dem Naturgesetz – dass nämlich die Menschen altern und nicht das Bild. Diese Regel bleibt bestehen. Es gibt hier nur eine erstaunliche, unerklärliche Ausnahme.
Und das macht den Roman so spannend.
Sobald diese Ausnahme bei mehreren Personen zutrifft, sobald dieses physikalische (oder biologische oder was weiß ich) Gesetz außer Kraft tritt rutschen wir in die Fantasy ab – wo die Regeln der jeweiligen Wirklichkeit von dem jeweiligen Autoren bestimmt werden und ganz anders sind oder sein können.
Eines ist sicher: Was in einem phantastischen Roman vorfällt ist irrational, unverständlich, unerklärlich, sei es nun gut oder teuflisch, sei es ein von Dämonen besessener Mensch oder Stimmen die aus der Vergangenheit zu dem Romanhelden sprechen, seien es seltsame Kreaturen die in sein Zimmer schleichen oder der Held selbst der im Geiste reist. Oder sei es ein Bildnis, welches anstelle seines Modells altert.
Für mich ist ein phantastisches Buch also ein Roman in dem einem Helden ein von Naturgesetzen nicht zu erklärendes und unverständliches Ereignis, ein „übernatürliches“ Ereignis wiederfährt, der sich nun dieser „phantastischen“ Situation stellen muss, die in einer ansonsten realen Welt geschieht. Die Phantastik enthält also tatsächlich einen Mini-Riss in der Realität, doch dieser ändert nichts an den Gesetzen die weiterhin überall und allgemein die Natur beherrschen.